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08.04.2024

Von unserem Partner Dr. Heinrich Schülen

In unserer Praxis als interimistische CIOs, CDOs oder Programmverantwortliche stoßen wir in Digitalisierungsprojekten immer wieder auf ein Phänomen: Über Jahrzehnte gewachsene IT-Strukturen mit ein paar wenigen, häufig ebenfalls Jahrzehnte alten Kern-Systemen wie ERP, MES oder LVS. Diese haben oft einen Funktionsumfang, der gestiegenen Anforderungen des Unternehmens, z. B. zur Erschließung neuer Märkte, zur Entwicklung und Fertigung und dem Vertrieb neuer Produktgenerationen oder Änderungen im Geschäftsmodell, nicht mehr gerecht wird.

Weil diese Anforderungen im Laufe der Jahre sukzessive hinzukamen, haben die meisten IT-Abteilungen kleine Programme (häufig als „Rucksäckchen“ bezeichnet) zu den Kern-Systemen hinzu programmiert. Aus der Perspektive des Einzelfalls betrachtet, war das oft die schnellste und wirtschaftlichste Lösung. Die Kehrseite solcher Ad-hoc-Anpassungen ist jedoch, dass die Vielzahl angedockter Einzel-Applikationen die gesamte IT-Landschaft störungs- und fehleranfällig sowie unflexibel macht. Manuelle Arbeiten wie das Übertragen von Daten von einer Anwendung in die andere, die Nutzung zahlreicher Excel-Sheets oder die Anpassungen selbst von täglichen Transaktions-Daten werden dadurch zur Regel. Hinzu kommt das erhebliche Risiko, dass solche proprietären Lösungen oft an das Wissen einzelner Personen gebunden sind. Fallen diese aus oder verlassen sie das Unternehmen, entstehen schnell Probleme, die sich nur mit großem Aufwand in den Griff bekommen lassen.

Digitalisierung, im Sinne vollständig durch IT-Systeme gesteuerter oder zumindest effektiv unterstützter Geschäftsprozesse, ist das nicht. Die beiden wesentlichen Vorteile der Digitalisierung, Effizienz (hinsichtlich Zeit und Kosten) und Transparenz (mit den dadurch gegebenen Steuerungsmöglichkeiten und schnelleren Entscheidungen), kommen zu kurz.

Ein exemplarisches Digitalisierungsmandat

Der Ausweg aus dem wild gewachsenen IT-Dschungel liegt dann häufig in einem radikalen Schnitt und der Einführung eines neuen, umfassenden und adaptiven Kernsystems, das alle wesentlichen Abläufe abbildet und integriert.

Unser Digitalisierungs-Beitrag als auf digitale Transformation spezialisierte Interim Manager besteht regelmäßig darin, ein Maßnahmenbündel zu entwickeln und in einem Programm umzusetzen, das als wichtigste Startpunkte enthält:

  • alle wesentlichen Prozesse im Hinblick auf ein neues ERP-, MES-, LVS- oder CRM-System umzugestalten;
  • daraus langfristig tragfähige Anforderungen abzuleiten und in ein effektives Requirement-Management einzubringen. Häufigste Herausforderung dabei ist, wirkliche Anforderungen und nicht am Ist-Zustand orientierte, vorschnelle Lösungen zu spezifizieren;
  • Den Softwarehersteller (oder dessen Berater) so zu steuern, dass er nicht seine Interessen durchsetzt, sondern die für die Firma beste Lösung zustande kommt, die ihr im Wettbewerb messbare Vorteile verschafft;
  • Datenqualität sicherzustellen: Die Umstellung aller Stammdaten (z. B. Materialien, Artikel, Arbeitsplänen, Stücklisten, Anlagen, …)auf ein neues System erfordert nicht nur in den meisten Fällen eine Umstrukturierung für ein neues Datenmodell, sondern bietet auch einen guten Anlass zur Pflege, Bereinigung und Qualitätssicherung.
  • Verantwortlichkeiten für Stammdaten zu klären: Mit veränderten Datenstrukturen sind in vielen Fällen auch diese neu zu regeln (z. B. „Pflege der Spediteur-Stammdaten weiterhin durch den Einkauf oder durch den Versandleiter?“)
  • verbleibende Schnittstellen klar und möglichst simpel zu definieren, meist
    • interne: typischerweise zwischen ERP und MES oder LVS hinsichtlich Datenhaltungen und -übergaben und eingesetzten Techniken (z. B. SOAP, REST, …)
    • externe zu Geschäftspartnern und deren Plattformen

Der Schlüssel für signifikante und nachhaltige Effizienzsteigerungen liegt darin, die gesamten Prozesse End-to-End (E2E) in Blick zu nehmen – also auch jene der Geschäftspartner. In den Abteilungen erfährt man jedoch regelmäßig etwas über jeweils „abgeteilte“ Prozessabschnitte. Der ganzheitliche Blick auf die Prozesslandschaft muss fast immer erst erarbeitet werden.

Bei Sekundärprozessen, etwa für Steuerung und Kontrolle, geht die Fragestellung meist weiter: Welche Information braucht es wann in welcher Form, um welche Entscheidungen zu treffen? Braucht es wirklich Sonderauswertungen, die meist manuell mit hohem monatlichen Zeitaufwand zu erstellen sind? Kann das neue System diese Information nicht bereits automatisiert erzeugen? Oder wie leicht lässt sie sich extrahieren? Nach aller Erfahrung liegt selbst bei straffen Primärprozessen genau hier, beim Abschneiden alter Zöpfe, enormes Einsparungspotential.

Die Vorteile einer inkrementellen Einführungsstrategie

Prozesse ganzer Wertschöpfungsketten umfassend in einem integrierten System abzubilden, ist anspruchsvoll und hoch komplex. In aller Regel gelingt dies auch nicht - oder nur unter erheblichen Risiken – in einem Schritt („Mega-Go-Live“). In einer vor kurzem abgeschlossenen ERP-Einführung (mit all den oben beschriebenen Phänomenen) ist es gelungen, durch ein gestaffeltes Roll-out alle wesentlichen Geschäftsrisiken wie Produktionsstillstand und stockende Lieferungen zu vermeiden. Nach der Finanz-Buchhaltung und, mit einigen Monaten Abstand, der Personalverwaltung ging als Drittes die Beschaffung live. Auch der sog. Haupt-Go-Live wurde ebenfalls auf mehrere Wochen verteilt: zuerst Kommissionierung und Versand, dann das erste Werk, dann das zweite und in diesem die Fertigungslinien wiederum zeitlich versetzt.

Neben der erheblichen Minimierung von Risiken wirkt das inkrementelle Vorgehen auf die Mitarbeiter motivierend. Über das Gefühl hinaus, das etwas vorangeht, gab es ihnen die Möglichkeit, sich schrittweise an das neue ERP-System zu gewöhnen. Die üblichen Aufwände für die Migration von Stamm- und Transaktionsdaten werden damit ebenfalls zeitlich verteilt, die Risiken überschaubarer und leichter zu vermeiden. Fehler, seien sie im System oder neuen Arbeitsweisen, und Unfälle haben auf diese Weise deutlich geringere Auswirkungen. Auch das bekannte Phänomen, dass Mitarbeiter beschönigende Reminiszenzen an das – eigentlich verhasste – alte System pflegen, lässt sich damit einhegen. Denn die Vergangenheit wird immer dann gerne idealisiert, wenn neue Anwendungen – sei es aufgrund von Fehlern, ungewohnter Bedienung oder noch nicht berücksichtigter Sonderfälle – nicht von Anfang an alle Funktionalitäten abdecken.

Digitalisierung ist mehr als Systemeinführung

Erfolgreich digitalisiert sind Geschäftsprozesse dann, wenn Effizienz und Transparenz messbar und anhaltend gesteigert wurden. Die Voraussetzung dafür ist ein entsprechend solides Prozessverständnis. Rückblickend gingen solche Effizienz- und Transparenzsteigerungen in den 70er-Jahren von der IT-Übernahme einer Sachbearbeitung, z. B. der Lohnabrechnung, über flächendeckende Unterstützung ganzer Prozesse wie z. B. Materialflüsse durch das gesamte Unternehmen bis zur Integration von Prozessen über Unternehmensgrenzen hinweg wie Plattformen mit Marktplätzen und ausgereifter Middleware für komplexe Prozesse. Die Geschäftsmodelle blieben dabei allerdings weitgehend unangetastet.  

Die nächste Stufe der Digitalisierung ist daher die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells, also eine grundsätzliche Anpassung von Leistungs- und Wertschöpfungsströmen an verändertes Kundenverhalten, die ohne umfassende IT-Durchdringung nicht möglich wären. Das wohl am besten bekannte Beispiel dafür ist die Verlagerung des Einzelhandels zum Versandhandel. Solche sprunghaften Änderungen und manchmal auch Disruptionen in Geschäftsmodellen sind der eigentliche Zweck der Digitalisierung. Denn sie bieten den Kunden und anderen Stakeholdern bisher nicht gekannte Vorteile wie Sortimentsbreite, Schnelligkeit oder Bequemlichkeit. Wie also Leistungen künftig in stark veränderten Leistungs- und Wertschöpfungsketten erbracht werden können, diese Frage sollte am Beginn eines jeden Digitalisierungsvorhabens stehen. Eine gute Unternehmensstrategie bietet hierfür Anhaltspunkte und bildet damit zugleich die Grundlage für eine gute Digitalisierungsstrategie. Und selbst wenn es nicht immer die ganz großen Veränderungen sind, auch im Kleinen, in einzelnen Wertschöpfungsschritten, lassen sich durch solche grundsätzlichen Fragen Lösungen finden, die eine lieblose, schemenhafte Einführung eines neuen ERP-Systems nicht bringen würde. Im oben genannten Beispiel ließ das neue System jedenfalls gänzlich neue Planungs- und Dispositionsmechanismen zu, die es ermöglichten, den Fertigwarenbestand so weit zu reduzieren, dass ein externes Lager ganz abgebaut werden kann.

Das für eine erfolgreiche Digitalisierung nötige Out-of-the-box-Denken ist eine unserer Ansprüche als Interim Manager. Die Vielfalt branchenübergreifender Erfahrungen aus zahlreichen Mandaten gibt uns den Hintergrund dafür.

 

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